Die Winterreise und Weiterführendes
Ausstellung von Beate Rothensee in der Kirche am Tempelhofer Feld
12.11.2010 – 16.01.2011
Beate Rothensee hat Kunst und Germanistik in ihrer Geburtsstadt Essen studiert und anschließend ein Studium der Freien Kunst an der renommierten Kunstakademie in Düsseldorf als Meisterschülerin abgeschlossen. Sie arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre als freie Künstlerin, ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden und beteiligt sich erfolgreich an Kunst am Bau Wettbewerben. Essen, Düsseldorf, Hamburg, Stuttgart und Berlin sind einige der Städte in ihrer langen Ausstellungsliste. Sie lebt in Berlin und Nackel, nahe Neuruppin.
Die Arbeiten von Beate Rothensee sind Malerei und Skulptur zugleich. Die Künstlerin bewegt sich zwischen Objekt und Metapher, sie ist auf der Suche nach dem Transzendenten, das Form und Materialität übersteigt. Die klassische Kunst, der goldene Schnitt, Literatur, Dichtung und Musik spielen eine große Rolle in der Inspiration zu ihrer Arbeit, die von einer Sehnsucht nach Ausgeglichenheit geprägt ist. Sie achtet auf Proportionen und untersucht komplementäre Gegensätze wie schwarz-weiß, vertikal-horizontal, Rast und Unruhe, Ende und Neuanfang. Wenn sie oft tragische Inhalte behandelt, gibt es meist einen augenzwinkernden Ausweg, der zum Lachen bringen kann: sie beleuchtet die Freude und den Schmerz im menschlichen Leben. Die Künstlerin lebt mit Zitaten von Goethe und Schiller, von Kleist und Kafka, Eichendorff und hier bei der Winterreise, Wilhelm Müller; diese begleiten sie wie gute Freunde durch ihre Gegenwart und ebenso macht sie sich Gedanken zu unserem kulturellen Gut und wie es heute damit bestellt ist.
Beate Rothensee arbeitet seit zwei Jahren an Assoziationen mit Franz Schuberts Winterreise, einer der eindrücklichsten Kompositionen der Romantik. Das Werk basiert auf einem Liederzyklus von Wilhelm Müller. Schubert und Müller kannten sich nicht, aber der Komponist fühlte sich von dem Text so angesprochen, dass er ihn 1827, ein Jahr vor seinem Tod, vertont hat. Die 24 Lieder für Singstimme und Klavier kreisen um den existentiellen Schmerz, der beim Verlust einer Liebe entsteht.
„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus…“ Mit diesen Worten beginnt das erste Lied, dessen zentrale Figur die des Wanderers ist. Ein Wanderer hat nach großer menschlicher Enttäuschung die Gesellschaft verlassen und irrt ohne Ziel und Hoffnung in der winterlichen Landschaft umher. Die Texte greifen den übergroßen Kummer auf, an dem der Wanderer zeitweise zu zerbrechen droht. Entlang der 24 Stationen seines passionsgleichen Weges ist er starken Stimmungsschwankungen ausgesetzt: Innere Erstarrung und Sehnsucht nach Erlösung wechseln mit neuem Mut und Willen zur Veränderung. Die Winterreise gilt als Metapher für krisenhafte Erfahrungen, die jeder Mensch im Laufe seines Lebens durchleidet.
Diese universellen menschlichen Erfahrungen spiegelt die Künstlerin in Bildern und Objekten in ihre eigene Bildsprache zeitgemäß wider. Sie folgt aber nicht in letzter Konsequenz dem verdüsterten Wanderer der literarischen Vorlage, die linear auf absolute Hoffnungslosigkeit zusteuert, sondern verwandelt die Zweifel und die Trauer, die in der Düsternis der aktuellen Novembertage aufkommen kann, in Erwartung und adventliche Stimmung.
Der Ablauf der Ausstellung fügt sich in den runden Grundriss dieser Kirche ein, der sich hervorragend für die Thematik des Wanderns und der Wiedergeburt eignet. Die präsentierten Arbeiten sind mit Titeln versehen – besondere Textstellen, die auf die Kunstwerke verweisen und dem Betrachter assoziativ zu einer Interpretation verhelfen, sind in den Zwischenräumen unter den Fenstern zu finden.
Die Arbeiten „Tor“ und „Engel“ am Altar stellen im Werk der Künstlerin Erhabenheit und Vollkommenheit dar: es sind immer wiederkehrende Motive, die innere Kraft und Ruhe ausstrahlen. Wir können von dort aus den Wanderer auf seinem Weg vom Dunklen in das Licht von links nach rechts begleiten.
Zusammen mit den Wanderstiefeln versinnbildlicht der mit einem Trauerschleier verhängte, schwarze Rucksack den Anfang der Reise, den Verlust, der sich in der kleinen Bleiarbeit „Ausgebrannt“ niederlegt. Betrachten wir die Kunstwerke aus der Mitte des Raumes, fällt uns die spiegelbildliche Anordnung auf: der bleierne Rucksack findet seine Entsprechung in einem goldenen Rucksack, die Antwort auf einen Nistkasten aus Salz ist ein Nistkasten aus Zucker, der leere Teller von Franz Kafkas Hungerkünstler, dem keine Speise geschmeckt hat, nehmen wir in Gegenüberstellung zu üppigen Festmahlzeiten wahr.
Im Laufe des meditativen Weges um die Kirche, schlägt die Verzweiflung in Mut und Tapferkeit über, es kommen Heiterkeit und Hoffnung auf: hierzu sehen wir die Papierarbeiten „Samurai“, sowie die edel aussehenden „Klugen Jungfrauen“, die den Eingang zum Kirchenraum seitlich einfassen. In der Bildsprache von Beate Rothensee gibt es keine törichten Jungfrauen, sondern ausschließlich eine größere Anzahl kluger Damen – hier in Auswahl – deren Tugenden in geometrischer Abstraktion und feiner Ausgewogenheit uns vor Augen geführt werden.
Bei den Arbeiten mit dem ironischen Titel „Aus dem Künstlerleben. Gott, Tod und die Preisliste“, handelt es sich um eine Paraphrase des Werkes „Aus dem Marienleben“ von Albrecht Dürer. Hier montiert und collagiert die Künstlerin Text- und Brieffragmente aus ihrem Alltag zu fragilen und verletzlichen Strukturen, die wesentliche Aspekte aus der Realität des Künstleralltags in ästhetisierter Form durchscheinen lassen.
Der profane Umzugskarton ist in einen „Schrein“ verwandelt worden und lässt uns über Reise und Rastlosigkeit, Hab und Gut nachdenken. Bei den Nistkästen – Sinnbilder für Freiheit, Schutz und Wärme – ist schwarz zu gold, das Salz der Tränen ist Zucker geworden.
Beate Rothensee leitet dann zu schönen Fresstempelchen und festlichen Gelagen über, wobei sich mit den ikonenhaften „Epiphanien“ und den zauberhaften „Tempietti“ ein Hauch von Wehmut und Ironie einschleicht. Diese Kostbarkeiten sind mit Hilfe von goldenen Leberpasteten und Forellenfilet-Verpackungen aus dem Billigmarkt, dem Konsumtempel gefertigt.
Am Ende der Wanderung und bevor man sich wieder auf eine neue Reise einlässt, hängt der gold leuchtende Rucksack mit dem Titel „Talente“, im Sinne von Begabung. Dieser Licht gefüllte Rucksack spiegelt uns, dass wir alle Wanderer sind, die nicht nur Verlust und Schmerz im Gepäck haben, sondern auch wertvolle Schätze mit uns tragen und dass es unsere Aufgabe ist, unsere Begabungen zu pflegen und sie der Welt zu verkünden.
© Dr. Helen Adkins
|